Dann stellt sich als nächs­ter Schritt na­tür­lich die Fra­ge: Was nun? Er­ge­ben wir uns nun die­ser furcht­ba­ren Ge­walt und las­sen wir un­ser Stre­ben nach Frie­den „ster­ben“ – oder be­har­ren wir wei­ter dar­auf, dass es Frie­den ge­ben muss und ge­ben kann?

Ich bin über­zeugt, dass wir wei­ter­ma­chen und da­für den grö­ße­ren Kon­text des Kon­flikts im Blick ha­ben müs­sen. Un­se­re Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker des West-Eas­tern Di­van Or­ches­tra, un­se­re Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten in der Ba­ren­boim-Said-Aka­de­mie, sie sind fast al­le un­mit­tel­bar be­trof­fen. Vie­le der Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker le­ben in der Re­gi­on, und auch die an­de­ren ha­ben vie­le Ver­bin­dun­gen in ih­re Hei­mat. Dies be­stärkt mich in mei­ner Über­zeu­gung, dass es nur ei­ne Lö­sung die­ses Kon­flikts ge­ben kann: auf der Grund­la­ge von Hu­ma­nis­mus, Ge­rech­tig­keit und Gleich­heit – und oh­ne Waf­fen­ge­walt und Be­sat­zung.

Un­se­re Frie­dens­bot­schaft muss lau­ter sein denn je. Die grö­ß­te Ge­fahr ist doch, dass al­le die Men­schen, die sich so sehn­lichst Frie­den wün­schen, von Ex­tre­mis­ten und Ge­walt über­tönt wer­den. Jeg­li­che Ana­ly­se, jeg­li­che mo­ra­li­sche Glei­chung, die wir mög­li­cher­wei­se auf­set­zen, muss aber als Ba­sis die­ses Grund­ver­ständ­nis ha­ben: Es gibt Men­schen auf bei­den Sei­ten. Mensch­lich­keit ist uni­ver­sell, und die An­er­ken­nung die­ser Wahr­heit auf bei­den Sei­ten ist der ein­zi­ge Weg. Das Lei­den un­schul­di­ger Men­schen auf egal wel­cher Sei­te ist ab­so­lut un­er­träg­lich.

Die Bil­der der ver­hee­ren­den ter­ro­ris­ti­schen An­grif­fe der Ha­mas bre­chen uns das Herz. Un­se­re Re­ak­ti­on zeigt deut­lich: Die Be­reit­schaft zur Em­pa­thie, die Be­reit­schaft, die Si­tua­ti­on der An­de­ren nach­zu­füh­len, ist es­sen­zi­ell. Man muss selbst­ver­ständ­lich und ge­ra­de jetzt auch Ängs­te, Ver­zweif­lung und Wut zu­las­sen – aber in dem Mo­ment, wo dies da­zu führt, dass wir ein­an­der die Mensch­lich­keit ab­spre­chen, sind wir ver­lo­ren. Je­de ein­zel­ne Per­son kann et­was be­wir­ken und wei­ter­ge­ben. So ver­än­dern wir im Klei­nen. Im Gro­ßen ist die Po­li­tik ge­fragt.

Wir müs­sen de­nen, die sich zum Ex­tre­mis­mus hin­ge­zo­gen füh­len, an­de­re Per­spek­ti­ven bie­ten. Meist sind es doch völ­lig per­spek­tiv­lo­se, ver­zwei­fel­te Men­schen, die sich mör­de­ri­schen oder ex­tre­mis­ti­schen Ideo­lo­gi­en ver­schrei­ben, dort ein Zu­hau­se fin­den. Bil­dung und In­for­ma­ti­on sind eben­so es­sen­zi­ell, denn es gibt so vie­le Po­si­tio­nen, die auf ab­so­lu­ter Falsch­in­for­ma­ti­on ba­sie­ren.

Um es ganz klar zu wie­der­ho­len: Der is­rae­lisch-pa­läs­ti­nen­si­sche Kon­flikt ist kein po­li­ti­scher Kon­flikt, zwi­schen zwei Staa­ten über Gren­zen, Was­ser, Öl oder an­de­re Res­sour­cen. Es ist ein zu­tiefst mensch­li­cher Kon­flikt zwi­schen zwei Völ­kern, die Leid und Ver­fol­gung ken­nen. Die Ver­fol­gung des jü­di­schen Vol­kes über 20 Jahr­hun­der­te fand ih­ren grau­sa­men Hö­he­punkt in der Ideo­lo­gie der Na­zis, die sechs Mil­lio­nen Ju­den er­mor­de­ten. Das jü­di­sche Volk heg­te ei­nen Traum; ein ei­ge­nes Land, ei­ne Hei­mat für al­le Ju­den im heu­ti­gen Ge­biet Pa­läs­ti­nas. Aus die­sem Traum aber folg­te ei­ne zu­tiefst pro­ble­ma­ti­sche, weil grund­fal­sche An­nah­me: Ein Land oh­ne Volk für ein Volk oh­ne Land. In Wahr­heit je­doch lag der An­teil der jü­di­schen Be­völ­ke­rung Pa­läs­ti­nas im Ers­ten Welt­krieg bei nur neun Pro­zent. 91 Pro­zent der Be­völ­ke­rung wa­ren al­so nicht jü­disch, son­dern pa­läs­ti­nen­sisch, über Jahr­hun­der­te ge­wach­sen. Das Land kann kaum als „Land oh­ne Volk“ be­zeich­net wer­den, und die pa­läs­ti­nen­si­sche Be­völ­ke­rung sah kei­nen Grund, das ei­ge­ne Land auf­zu­ge­ben. Der Kon­flikt war so­mit un­aus­weich­lich, und seit sei­nem Be­ginn ha­ben sich die Fron­ten über Ge­ne­ra­tio­nen nur wei­ter ver­här­tet. Ich bin über­zeugt: Die Is­rae­lis wer­den dann Si­cher­heit ha­ben, wenn die Pa­läs­ti­nen­ser Hoff­nung spü­ren kön­nen, al­so Ge­rech­tig­keit. Bei­de Sei­ten müs­sen ih­re Fein­de als Men­schen er­ken­nen und ver­su­chen, ih­re Sicht­wei­se, ih­ren Schmerz und ih­re Not nach­zu­emp­fin­den.

Is­rae­lis müs­sen auch ak­zep­tie­ren, dass die Be­set­zung Pa­läs­ti­nas da­mit nicht ver­ein­bar ist.

Für mein Ver­ständ­nis die­ses über 70 Jah­re al­ten Kon­flikts ist mei­ne Freund­schaft mit Ed­ward Said das Schlüs­sel­er­leb­nis. Wir ha­ben in­ein­an­der ein Ge­gen­über ge­fun­den, das uns wei­ter­brin­gen kann und hel­fen kann, den ver­meint­lich An­de­ren kla­rer zu se­hen und bes­ser zu ver­ste­hen. Wir ha­ben uns in un­se­rer ge­mein­sa­men Mensch­lich­keit er­kannt und ge­fun­den. Für mich ist un­se­re ge­mein­sa­me Ar­beit mit dem West-Eas­tern Di­van Or­ches­tra, die in der Ba­ren­boim-Said-Aka­de­mie ih­re lo­gi­sche Wei­ter­füh­rung und viel­leicht so­gar ih­ren Hö­he­punkt fin­det, die wohl wich­tigs­te Tä­tig­keit mei­nes Le­bens.

In der ak­tu­el­len Si­tua­ti­on fra­gen wir uns na­tür­lich nach der Be­deu­tung un­se­rer ge­mein­sa­men Ar­beit in Or­ches­ter und Aka­de­mie. Es mag we­nig er­schei­nen – aber die Tat­sa­che al­lein, dass ara­bi­sche und is­rae­li­sche Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker bei je­dem Kon­zert ein Pult tei­len und ge­mein­sam mu­si­zie­ren, das ist für uns von im­mensem Wert. Über die Jah­re ha­ben wir durch die­se Ge­mein­sam­keit des Mu­si­zie­rens, aber auch durch un­se­re un­zäh­li­gen, teil­wei­se hit­zi­gen Dis­kus­sio­nen ge­lernt, den ver­meint­lich An­de­ren bes­ser zu ver­ste­hen, auf ihn zu­zu­ge­hen und Ge­mein­sam­kei­ten in un­se­rer Mensch­lich­keit und in der Mu­sik zu fin­den. Wir be­gin­nen und en­den al­le noch so kon­tro­ver­sen Dis­kus­sio­nen mit dem grund­sätz­li­chen Ver­ständ­nis, dass wir al­le gleich­wer­ti­ge Men­schen sind, die Frie­den, Frei­heit und Glück ver­die­nen. 

Das mag na­iv klin­gen, ist es aber nicht: Denn es ist ja die­ses Ver­ständ­nis, wel­ches im Kon­flikt auf bei­den Sei­ten heu­te völ­lig ver­lo­ren er­scheint.

Un­se­re Er­fah­rung zeigt, dass die­se Bot­schaft vie­le Men­schen in der Re­gi­on und auf der gan­zen Welt er­reicht hat. Wir müs­sen, wol­len und wer­den wei­ter dar­an glau­ben, dass Mu­sik uns in un­se­rer Mensch­lich­keit ein­an­der nä­her­brin­gen kann.“