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Brief einer Mutter an die Schulleitung

  • von

10.05.2020

Betreff: Gesundheitsbildung

Sehr geehrte Schulleitende,

ich möchte Sie im Bezug auf die Wiederaufnahme des Schulbetriebs Folgendes fragen:

Was wird von Schulseite an Gesundheitsbildung geleistet? Fächer wie Sport, Musik, Kunst etc., ich gehe davon aus, auch sämtliche Wahlfächer, sind von den Stundenplänen gestrichen. Welche Konzepte gibt es, um dies sinnvoll zu kompensieren, um deren ausgleichende Wirkung im Vergleich zu den anderen, sehr leistungsorientierten Fächern wiederherzustellen? Welche Angebote werden den jungen Menschen gegenüber formuliert, um sich mit den geistig-seelischen-spirituellen-religiösen-gesellschaftlichen, d.h. soziokulturellen Veränderungen, die sie mit und nach Corona erwarten, auseinander zu setzen? Welche Formen von Krisenbewältigung werden ihnen angeboten und vermittelt? Wird darüber an Schulen nachgedacht? Werden Schüler einbezogen in die Formulierung und Konzeptualisierung der neuen Realität? Wird mit ihnen die Diversität der Einschätzung des Virus und der Maßnahmen, die gesellschaftlich und politisch vorherrschen, diskutiert oder wird dies ignoriert werden? Werden die Kinder und Jugendlichen mit diesen Themen allein gelassen werden? Können Religions-/Ehtiklehrkräfte nicht online-Gesprächsrunden anbieten? Worin besteht derzeit die Arbeit der an der Schule beschäftigten Sozialpädagogin, der zuständigen Diplom-Psychologin? Worin bestehen die Aufgaben der Nebenfachlehrkräfte, wie werden deren Stundenkapazitäten verplant? – Nur eine Lehrkraft aus einem Wahlfach (! – Herr X, was sehr rühmlich ist) hat sich die ganze Zeit über bei meiner Tochter gemeldet… warum eigentlich nicht auch andere?

Wie setzen Sie das Motto „Bewegte Schule“ gerade jetzt um, wo es am nötigsten gebraucht wird? Können Sportlehrkräfte in den Sommermonaten Unterricht im Freien anbieten? Beispielsweise Gymnastik, um das ständige Sitzen auszugleichen? Was spricht gegen Walken, Joggen – mit gebotenem Abstand? Das Infektionsrisiko ist bei genügend Abstand in Luft und UV-Licht-Einwirkung gleich Null.

Welche weiteren Gesundheitsbildungsangebote geben Sie an die Schüler weiter? – Nur Hygieneregeln? Oder auch Möglichkeiten zur Immunstärkung, zu den bekannten salutogenetischen Faktoren? Wie stärken Sie die psychischen Widerstandskräfte der Ihnen anvertrauten jungen Menschen, um maßnahmeninduzierten Störungsbildern vorzubauen (Depression, diversen Ängsten, Zwängen)? Welche Konzepte bietet hierzu das Ministerium? Wie wird sich um die Gesundheit dieser besonders in Mitleidenschaft gezogenen SchülerInnengeneration in ganzheitlicher Sicht gekümmert? Wie werden die teils traumatisierenden Erfahrungen  der vergangenen Wochen aufgefangen? – Leben in Isolation, befremdliche Neubegegnung mit KameradInnen/FreundInnen, Medien-/Nachrichtenkonsum, Induktion von Ängsten bis hin zur Panik, Vereinsamung, Konfrontation mit Tod, evtl. Gewalt in Familien, evtl. elterliche Überreaktionen, drohende Arbeitslosigkeiten, wirtschaftliche Rezession, neu aufgekommene Zukunftsängste, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Infragestellungen – um nur ein paar Aspekte aufzuzählen.

Leider habe ich bislang konzeptuell hierzu keinerlei Ansätze aus Ihrer Schule vernommen. Mir als Mutter und mir als Diplom-Psychologin reichen alleinige neue Hygienevorschriften zum Wiederempfangen der aus dieser sehr ungewöhnlichen, noch nie da gewesenen Schulausfallssituation kommenden SchülerInnen nach 8 Wochen nicht aus. Wie haben sich die Lehrkräfte darauf vorbereitet? Wie fangen sie die teils sehr verunsicherten jungen Menschen auf?

Ein Beispiel, das mir letzte Woche von einer Mitarbeiterin meiner Einrichtung (einer Heilpädagogischen Tagesstätte) erzählt wurde: Sie schilderte mir, wie sie zusammen mit ihrer 12-jährigen Tochter vor dem Supermarkt einer befreundeten Mutter und deren gleichaltrigen Tochter über den Weg gelaufen ist. Die Begegnung war sehr kurz. Die Mütter wechselten ein paar Worte, die Kinder standen einander mit deutlichem Abstand gegenüber und sagten kein Wort. Schon zog die andere Mutter ihre Tochter schnell weiter und verabschiedete sich. Die beiden Kinder hatten kein Wort hervor gebracht! Die Frau, die mir davon erzählte, war entsetzt. Das war noch Tage später zu spüren. Ich sah es an ihren Augen.  Vor Schrecken geweitete Augen! Aus ihr sprach eine laute und hektische Stimme, die nach Atem rang. Sie konnte es nicht fassen: Ihre Tochter, die vor Corona jeden Tag mit ihrer besten Freundin zusammengesteckt, morgens bereits im Bus neben ihr gesessen war, den Schulvormittag mit ihr verbracht und sich nach der Schule noch etliche Male während der Woche mit ihr verabredet hatte, sagte jetzt nicht einmal „Hallo!“ zu ihr. Keine von beiden brachte ein „Hallo!“ über die Lippen. Was war mit ihnen passiert? Was hatten die Wochen in Isolation, die Angst vor Corona angerichtet? Wie befremdlich unnatürlich ist ihr Kontakt geworden?

Ich möchte hoffen, dass es sich hier nur um einen extremen Fall handelt, aber ich vermute, es ist sicher nicht der einzige. Auch meine Tochter hat eine ihrer besten Freundinnen angefragt, nachdem es wieder erlaubt war, sich mit einer Person eines anderen Haushalts zu treffen. Die Antwort war, sie wolle sich nicht treffen. Zuviel Angst vor Ansteckung. Das war ja auch gewollt – und wenn die Anweisungen der Regierung in zahlreichen Fällen entsprechend aufgenommen wurden, so wie hier, dann ist nun die Frage, wie ein gesundes (und das meine ich auf allen Ebenen!) Inkontaktkommen gestaltet werden kann.

Wie fangen Sie die Risse auf, die durch Freundschaften, Klassen, Familien – mittlerweile durch die gesamte Gesellschaft gehen? All das wird die Kinder weit mehr beschäftigen, wenn sie wieder aufeinander treffen: Wie gestalten wir den Umgang miteinander? Wie gehen Sie auf das Bedürfnis derjenigen ein, die sich treffen werden – heimlich, verbotener Weise? Wie begegnen Sie den sozio-emotionalen Verwerfungen (soziale Ängste, Entfremdungen, Unsicherheiten, Förderung von staatlich gefördertem Denunziantentum), die in dieser Zeit passiert sind und durch die besonderen, neuen Verhaltensnormen an Schulen weiter genährt werden?

Mir reicht die hygienisch einwandfreie Verwaltung von Schülerkörpern nicht, um meine Tochter guten Gefühls wieder in die Schule schicken zu können! Schülerseelen machen sich nicht nur Gedanken um evtl. nachzuholenden Stoff und Leistungsnachweise, nein. Was sie belastet, sind Fragen wie: „Was ist, wenn ich ganz allein sitze und mit den Matheaufgaben nicht zurecht komme? Ich kann ja nun nicht mehr meine Nachbarin um Hilfe bitten, dass sie es mir erklärt? Jetzt habe ich meine Freundinnen so lange nicht gesehen – und wir sollen uns nicht einmal umarmen dürfen? Da ist es ja, als würden wir uns gar nicht sehen. Deswegen gehe ich ja schließlich hin! Wir werden uns anschreien müssen, um uns miteinander zu unterhalten. Ich will nicht, dass alle Umstehenden meine Gespräche hören. Dann kann man sich ja gar nicht mehr wirklich unterhalten. Was ist, wenn mir schlecht wird mit der Maske? Wenn ich so schnelles Herzklopfen bekomme wie neulich? Was, wenn ich nicht richtig Luft bekomme, da ich ja ohnehin mit der Pollenallergie schon nicht gescheit atmen kann?“ – Eine kleine O-Ton-Aufnahme aus unserem Zuhause. Nur ein klitzekleiner gesellschaftlicher Ausschnitt.

Und nehmen Sie sich nun bitte nicht exklusiv meine Tochter vor, mit ihr speziell ins Gespräch zu gehen! Es wäre ihr sicherlich unangenehm, darauf persönlich angesprochen zu werden. Ich schreibe aus der Verantwortung für eine große Gruppe sehr wahrscheinlich Mitbetroffener, deren Mütter und Väter nicht die Zeit oder nicht den Mut haben, Ihnen zu schreiben. Ich vertraue auf Ihr mitfühlendes Taktgefühl!

Haben Sie schon einmal über diese Implikationen der Maßnahmen nachgedacht? Was haben Sie im Kollegium besprochen, in welcher Weise Sie auf die Befindlichkeiten der jungen Menschen in Konfrontation mit dieser neu geschaffenen Realität eingehen wollen?

Mir ist sehr bewusst, dass Sie in den vergangenen Wochen unter ständiger Anpassungsleistung an die permanent neu verordneten Maßgaben des Ministeriums auf Hochtouren gearbeitet haben und diese Arbeit unter dauernder Anspannung und Ungewissheit bestimmt sehr, sehr anstrengend und energiezehrend war. Dafür haben Sie meinen großen Respekt! Dennoch möchte ich diese andere Perspektive auf die SchülerInnen als Menschen, als denkende und empfindende Individuen und nicht nur als zu desinfizierende Virenschleuder*Innen, in den Vordergrund gestellt sehen und mich für dieses Anliegen als verantwortungsvolle Bürgerin einsetzen. Wie wird der nächsten Generation die Würde des Menschseins vermittelt, wenn nicht durch einen entsprechenden Umgang mit ihrer Person, unter achtsamem Umgang mit ihren Empfindungen und Bedürfnissen nach Selbstentfindung, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, nach Austausch mit den Gleichaltrigen, mit ihren Freunden und Freundinnen?

Aus diesen Gründen erlaube ich mir meine umfangreiche Nachfrage an Sie!

Ich erwarte Ihre Antworten und bin sehr gespannt auf Ihre Handlungskonzepte!

Mit freundlichen Grüßen,

Regina Gimpel

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